Antwort auf: Kev777

Was ist denn schlechtes daran schüler mit lernschwäche in förderschulen zu unterrichten?
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Ich verstehe auch nicht so ganz wie man von ausgrenzung sprechen kann nur weil ein schüler eine förderschule statt einer regelschule besucht? Hat das wirklich etwas mit der schule an sich zu tun oder der art wie die menschen diese schulen wahrnehmen?

Die Schule hat in Deutschland verschiedene Funktionen. Eine davon ist die von mir im letzten Beitrag ganz kurz angeschnittene Verteilungs- bzw. Allokationsfunktion.
Der Erfolg in der Schule entscheidet, welche Position man im Wirtschaftssystem später einnimmt bzw. einnehmen darf. Diese Struktur ist streng hierarchisch geordnet und mit jeder Position im Wirtschaftssystem ist ein bestimmter sozialer Status verbunden sowie ein festgelegter Grad an materieller Absicherung.
Insofern wird in der Schule maßgeblich mit entschieden, über welchen Grad an Teilhabe Kinder und Jugendliche im späteren Leben verfügen.
Nun haben wir im dreigliedrigen Schulsystem drei berufsqualifizierende Abschlüsse: Hauptschulabschluss, Mittlere Reife und Abitur.
Der Förderschulabschluss ist kein (!) staatlich anerkannter Abschluss und insofern das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt ist. Wir erlauben es uns also, Kinder und Jugendliche in Einrichtungen zu stecken, die als Ziel keinen berufsqualifizierenden Abschluss anstreben. Für mich klingt das nicht nach Schule, sondern nach Beschäftigungstherapie, bis die Schulpflicht abgearbeitet ist und man die Jugendlichen in Hartz IV entlassen kann.
Auf jeden Fall stellt dies in meinen Augen einen krassen Fall von Ausgrenzung einer ganzen Bevölkerungsgruppe dar (und nicht etwa lediglich eine gesellschaftliche Zuschreibung/Attribution derer).

In Anbetracht dieser Tatsache halte ich es für sehr zynisch, den Besuch einer Förderschule mit dem Besuch einer Musikschule zu vergleichen.
Die Musikschule ist ein Ort der zusätzlichen (!) Förderung, welcher Teilhabemöglichkeiten in der Gesellschaft durch die Vermittlung von kulturellem uns musischem Wissen vergrößert.
Förderschulen sind Orte, die Teilhabemöglichkeiten limitieren, indem sie Chancen limitieren.
Auch der Vergleich mit Wirtschaftsschulen ist Zynismus pur. Ob ich nun ein humanistisches Gymnasium, ein naturwissenschaftliches Gymnasium oder ein Wirtschaftsgymnasium besuche, ist völlig egal. Am Ende habe ich mein Abitur und damit einen Hochschulzugang in der Hand. Der Hochschulzugang eröffnet mir alle nur möglichen Chancen (auf Erfolg und damit soziale Ressourcen und Teilhabe).


Ebenso halte ich es für richtig, Haupt- und Realschüler*innen sowie Gymnasiast*innen gemeinsam zu unterrichten, zumindest bis zu einem bestimmten Punkt. Es ist bewiesen, dass Kinder und Jugendliche von Gleichaltrigen sehr gut lernen können (besser als von Lehrer*innen). In anderen Ländern (die in Vergleichtest wie PISA übrigens deutlich besser abschneiden als wir) funktioniert dies auch sehr gut.
Die guten Schüler*innen können ihre Aufgaben erledigen und danach den schwächeren Schüler*innen bei der Lösung der Aufgaben helfen. Dies sorgt bei den Stärkeren für eine Vertiefung des Lernstoffs und einen Zuwachs an sozialer Kompetenz (Stichwort soziales Lernen), während die Schwächeren vom Wissen der Stärkeren profitieren und schneller lernen. Wer in einem Fach zu den "Schwachen" gehört, hilft vielleicht in einem anderen Fach als "Starker" wiederum seinen Mitschüler*innen.
Insgesamt nehmen die Stärksten im Vergleich zum jetzigen Gymnasium etwas weniger Fachwissen mit, die Schwächsten hingegen können enorm profitieren.

Es stellt sich einfach die Frage: Wollen wir ein Schulsystem, das eine Elite auf der einen und eine Vielzahl an Bildungsverlierer*innen auf der anderen Seite produziert (dreigliedriges Schulsystem mit Haupt- und Realschule sowie Gymnasium) oder wollen wir ein Schulsystem, in dem es immer noch gute und schlechte Schüler*innen, aber keine Extreme gibt (gemeinsamer Unterricht bis Klasse xy mit möglicher anschließender Spezialisierung)?

Politisch gewollt ist derzeit die Stärkung der Starken, auch genannt Elitenförderung, indem wir extra Schulen für diejenigen haben, die eh schon die besseren Startbedingungen haben. Einflussreiche Elternverbände (die natürlich zumeist aus den Eltern der "Bildungselite" bestehen) sowie Lehrer*innenverbände der Gymnasien (welche meiner Meinung nach einen Ansehensverlust befürchten) verhindern bisher ebenso effektiv Versuche, das Schulsystem nach oben hin durchlässiger und insgesamt gerechter zu machen.