Intri 6

"Scheißdreck! Blöde Kuh! ... DU BLÖDE KUH!" Das war eine der negativen Nebeneffekte einer antropomorphen Personifizierung: Man erfuhr praktisch sofort, wenn jemand, der der eigenen Gestalt Macht auf Erden verlieh, aus dem Diesseits schied. So war es in diesem Falle. Das erste Mal in ihrer Existenz weinte Intri. Ihre Tränen ließen ihre sonst makellosen Haare an ihrem hübschen Gesicht kleben, als sie den Blick hob und auf die große, unheilvolle Gestalt richtete, die sich über ihnen erhob. "Mach ihrem Leiden doch ein Ende. Bitte!"
Seelenruhig betrachtete der Riese in schwarzer Kutte die Sanduhr, die er zwischen seinen knochigen Fingern hielt. Die letzten Körner fielen in die untere Hälfte und die Sanduhr löste sich einfach in Luft auf. Es ging so schnell, dass kein menschliches Auge die Bewegung hätte verfolgen können, doch Intri sah es: Wie die schimmernde Sense durch den Hals ihrer Freundin Amy drang, ohne Spuren zu hinterlassen. KOMM WIEDER RUNTER, polterte Tod, ES WAR ABZUSEHEN, ODER ETWA NICHT? JEDENFALLS BIN ICH SCHON EINE GANZE WEILE BEI IHR. ICH HAB MIR SOGAR WAS ZU LESEN MITGEBRACHT. WUSSTEST DU, DASS DIESER... Gevatter überlegte kurz, LORD WALDEMAR MIR ZIEMLICH ECHT NACHEMPFUNDEN WURDE...

Ihr leerer Blick bohrte sich in die Luft, während die unsterbliche Seele aufstieg und den Schnitter bei der Hand fasste. ICH LASS EUCH BEIDEN DANN MAL ALLEINE. ICH MUSS NOCH NACH OSLO. ... WÜNSCH DIR TROTZDEM NOCH NEN SCHÖNEN TAG.

"Dämlicher Penner." Ungeachtet dessen, dass er nur seiner Arbeit nachging - und längst verschwunden war- kniete sie neben der leblosen Hülle ihrer einstigen Freundin und Lieblingssängerin. "Amy, Amy... ich habs dir gesagt. Lass den Scheiß. Ich habs dir gesagt. Lass die Scheißdrogen sein und ritz dich lieber. Du hättest..." sie musste schluchzen und die Nase hochziehen, "du hättest dich ritzen können... ein Album mit Billy Talent oder... oder so aufnehmen können..."
Amy erwiderte nichts. Wie sollte sie auch. "Wieso. Wieso du. *zensiert*!" Sie stieß die Leiche an, die darauf hin noch verdrehter da lag als zuvor. So viel unsterbliche Macht, und dann passierte sowas. Einfach so.

"Miss Winehouse?" Das klopfen an der Tür riss sie jäh aus ihren Gedanken. Sterbliche waren auf dem Weg!
Aus den Schatten des Zwielichts verfolgte Intri in blinder Trauer das Geschehen, wie Uniformierte das Zimmer absperren und untersuchten, Blitzlicht und Hektitk. Wie im Zeitraffer flogen die Bilder an ihren Augen vorbei.

"Irgendwann," hörte sie sich wie aus weiter Ferne sagen, "irgendwann tret ich euch miesen Bastarden allen in die Eier... irgendwann."
Das Zwielicht verschlang sie und sie wurde eins mit den Schatten von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Sie konnte warten...