In Werte & Normen haben wir letzens auch einen Text durchgenommen, welcher gut zu diesem Thema passt.
Er ist vielleicht an manchen Stellen etwas schwierig zu verstehen, aber nach mehrmaligem Lesen geht es dann eigentlich schon, so war es bei mir zumindestens.
Krass beschrieben, aber interessant, finde ich.


Friedrich Nietzsche mit provozierenden Gedanken zur Beendigung des Lebens (1889)

Moral für Ärzte

Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustandist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetieren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken (Behandlungen), nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehen.
Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein, - nicht Rezepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis Ekel vor ihren Patienten... .
Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entarteten Lebens verlangt - zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht zu leben... .
Auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so dass ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo Der noch da ist, der sich verabschiedet, insgleichen (desgleichen; ebenso) ein wirkliches Abschätzendes Erreichten und Gewollten, eine Summierung des Lebens - alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das Christentum mit der Sterbestunde getrieben hat. Man soll es dem Christentum nie vergessen, dass es die Schwäche des Sterbenden zu Gewissens-Notzucht (Vergewaltigung des Gewissens), dass es die Art des Todes selbst zu Wert-Urteilen über Mensch und Vergangeheit gemissbraucht hat!
- Hier gilt es, allen Feigheiten des Vorurteils zum Trotz, vor allem die richtige, das heißt physiologische (körperliche, natürliche) Würdigung des sogenannten natürlichen Todes herzustellen: der zuletzt auch nur ein "unnatürlicher", ein Selbstmord ist.
Man geht nie durch jemanden anderen zu Grunde als durch sich selbst. Nur ist es der Tod unter den verächtlichsten Bedingungen, ein unfreier Tod, ein Tod zur unrechten Zeit, ein Feiglingstod.
Man sollte, aus Liebe zum Leben -, den Tod anders wollen, frei, bewusst, ohne Zufall, ohne Überfall... .
Endlich ein Rat für die Herrn Pessimisten und andere décadents (verfallener oder degenerierter Mensch). Wir haben es nicht in der Hand, zu verhindern, geboren zu werden: aber wir können diesen Fehler - denn bisweilen ist es ein Fehler - wieder gut machen. Wenn man sich abschafft, tut man die achtungswürdigste Sache, die es gibt: man verdient beinahe damit zu leben... .
Die Gesellschaft, was sag ich!, das Leben selber hat mehr Vorteil davon als durch irgendwelches "Leben" in Entsagung, Bleichsucht und andrer Tugend -, man hat die andern von seinem Anblick befreit, man hat das Leben von einem Einwand befreit... .
Der Pessimist, pur, vert (grün (Sinn hier?)), beweist sich erst durch die Selbstwiderlegung der Herrn Pessimisten: man muss einen Schritt weiter gehn in seiner Logik... (hier folgt ein Angriff auf den Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860), dessen Meinung zum Selbstmord Nietzsche offenbar unbefriedigend findet). Der Pessimismus, anbei gesagt, so ansteckend er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit einer Zeit, eines Geschlechts im Ganzen: er ist deren Ausdruck. Man verfällt ihm, wie man der Cholera verfällt: man muss morbid (kränklich) genug dazu schon angelegt sein. Der Pessimist selbst macht keinen einzigen décadent (verfallener oder degenerierter Mensch) mehr... .

[Aus: "Götzen-Dämmerung". Abschnitt "Streifzüge eines Unzeitgemäßen", Kapitel 36; leicht gekürzt. - Nietzsches Geisteskrankheit zeigt sich, ist aber im vorliegenden Kapitel eigentlich nicht beweisbar.]